Im Gespräch mit Professor Harald Matthes Leiter der Abteilung für Gastroenterologie und Ärztlicher Leiter sowie Geschäftsführer des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe in Berlin

Prof. Harald Matthes steht als ärztlicher Leiter der Klinik Havelhöhe für medizinische Exzellenz. Mit der Anthroposophischen Medizin vertritt er ein eigenständiges Lebens- und Heilkonzept, dass Spitzentechnik, Menschlichkeit und spirituelle Entwicklung miteinander in Einklang bringt. Heilung gelingt im intensiven Miteinander und konstruktiven Austausch zwischen Therapeut, Patient und Umfeld. Im Gespräch erzählt er, was Patienten in der Havelklinik erwartet und warum es ihm ein Herzenswunsch ist, die Medizin wieder menschlicher zu machen.

Über Prof. Harald Matthes

Prof. Harald Matthes hat seit 1995 als ärztlicher Leiter und Geschäftsführer das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe mit seinem engagierten Team zu einem anerkannten Ort für ganzheitliche Heilung entwickelt. An seinem Stiftungslehrstuhl an der Charité erforscht er seit 2017 die Möglichkeiten der Anthroposophischen Medizin wissenschaftlich-evidenzbasiert und trägt damit zur Entwicklung einer Medizin bei, die das Beste aus verschiedenen Konzepten vereint. Er ist Präsident der Deutschen Akademie für Homöopathie und Naturheilverfahren und Vorstand der Hufelandgesellschaft.

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Lieber Herr Prof. Matthes, was ist Anthroposophische Medizin und was macht diese besonders?

„Die Anthroposophische Medizin ist eine Integrative Medizin. Das bedeutet, dass wir diese ergänzend zur Schulmedizin in einem Gesamtkonzept einsetzen. Die Schulmedizin ist in der Akutmedizin erfolgreich und auch was die Unterdrückung von Symptomen anbelangt. Jedoch weniger, wenn es um Heilung oder um chronische Erkrankungen geht. Diese machen jedoch den Großteil der Volksgesundheit aus! Während die konventionelle Medizin vor allem auf supprimierende oder einstellende Medikamente setzt, wollen wir in der Anthroposophischen Medizin die salutogenetischen – also selbstheilenden – Kräfte aktivieren. Wir betrachten den Menschen als ein leiblich, seelisch und geistiges Wesen. Dadurch verstehen wir die Krankheit mehrdimensional als Interaktion des Leibes mit seiner Seele. Der Patient kann auch selbst aktiv zur Genesung beitragen. Das will die Anthroposophische Medizin fördern und unterstützen.“

Was bedeutet das für Ihre Patienten und die Therapien in Ihrem Haus?

„Da wir ein Akutkrankenhaus sind, verfügen wir zuallererst über alle hochqualifizierten naturwissenschaftlich-technischen Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie und setzen diese selbstverständlich auch ein. Doch darüber hinaus ist tatsächlich vieles anders als in konventionellen Häusern. Das beginnt bei der Beziehung zwischen Arzt und Patient: Die Individualität, das Ich des Menschen, sehen wir als die Instanz an, die reguliert und auch Veränderung herbeiführen kann. Unser Konzept beruht darauf, dass wir die Patienten als Partner sehen. Es ist bekannt, dass rund 80 % der Erkrankungen etwas mit unserem Lebensstil zu tun haben. Indem wir den Patienten erklären, was sie selbst für ihre Gesundung machen können, können sie sich besser motivieren, um ihren Lebensstil zu ändern. Es reicht jedoch nicht, einfach zu sagen: „Hör mit dem Rauchen auf!“ Deshalb bieten wir Konzepte an, die Veränderung anregen und die Patienten in eine innere Bewegung bringen: wie z. B. durch Anthroposophische Körper-, Bewegungs- oder Kunsttherapien. Neben der somatischen Ebene geben wir Hilfeleistung auf psychischer Ebene. Selbsterfahrung bei der Mal-, Musiktherapie oder dem Plastizieren sind dafür wertvolle Anregungen. Hier sind die Patienten übend tätig. Ein Beispiel dazu: Ein Alkoholiker sieht ein, dass das Trinken für ihn nicht gut ist. Doch sein eigentliches Problem ist seine Willensschwäche. Er hat höchste Vorsätze, doch hält nie lange durch. Wir wissen schon, wenn jemand am Ende der Entgiftung sagt: „Jetzt habe ich es geschafft.“, dann hat er wenig verstanden, sondern nur eine gute Phase. Er wird voraussichtlich wieder anfangen zu trinken. Um seinen Willen zu schulen, eignet sich die Arbeit mit Ton hervorragend. Das ist ein sogenanntes kaltes Medium, es spricht die Seele zunächst wenig an. Alles was passiert, muss durch die eigene Tätigkeit mit Kraft und Ausdauer in den Ton gestaltet werden. Das ist gerade für willensgeschwächte Menschen mühsam und deshalb muss es geübt werden. Ein Depressiver braucht das Gegenteil, eine Musik- oder Maltherapie, wo die Seele wieder angesprochen wird. Hier wird versucht ihn wieder in Bewegung und Schwingung zu bringen.

So integrieren wir zusätzlich zur naturwissenschaftlich-orientierten Schulmedizin ein breites therapeutisches Spektrum für die verschiedensten Erkrankungen. Es steht immer die Frage im Vordergrund: Was muss der Patient für Fähigkeiten erlernen, um mit seiner Krankheit besser umzugehen oder sie ganz zu heilen? Dazu gehört auch die Psychotherapie vor allem mit der Schematherapie von Jeffrey E. Young. Hier werden die Emotionen angesprochen. Wichtig ist für uns auch, den Patienten rein körperliche Selbsthilfestrategien zu zeigen. So lernen sie einen Kümmelwickel zu machen, wenn sie beispielsweise Bauchschmerzen durch Blähungen haben oder auch Organeinreibungen anzuwenden.“

„Die Technik wird immer besser, doch die Medizin wird es dadurch nicht unbedingt. Es ist daher wichtig, die Medizin wieder menschlicher zu machen.“
[Harald Matthes]

Das bedeutet, dass Sie Ihren Patienten deutlich mehr Zeit und Zuwendung als in konventionellen Häusern widmen?

„Ja das stimmt. Für das Krankenhaus bedeutet das, dass wir eine hohe Personaldichte brauchen. Wir haben mehr Therapeuten in der Pflege als andere Häuser.

Wir sind ein sogenanntes Versorgungskrankenhaus und werden von den Krankenkassen bezahlt. Doch wir erhalten von den Kassen nicht ausreichend mehr Geld. Als wir 1995 das Krankenhaus übernommen haben, mussten wir uns deshalb wirtschaftlich anders organisieren. Gleichzeitig wollten wir eine enge Beziehung zwischen Therapie und Diagnostik aufbauen, mit möglichst wenig Schnittstellen für die Patienten. Dafür haben wir uns von ‚Toyota‘ inspirieren lassen und ein sogenanntes ablaufoptimiertes Krankenhaus gebildet. Wir haben uns angesehen, welche Krankheiten müssen interdisziplinär gesehen werden und dann Verantwortungskreise gebildet. So sind bei uns die Chirurgie und die Gastroenterologie nicht getrennt, sondern sind eine Abteilung und teilen gemeinsam ein Budget. Einmal die Woche nehmen sich Ärzte, Therapeuten und Pfleger Zeit und besprechen interprofessionell gemeinsam ihre Patienten. Alle beraten, was ist das Therapieziel?  Dabei schauen wir auf der körperlichen, seelischen aber auch auf der biografischen Ebene. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist für die Patienten gut und hat sich auch wirtschaftlich als erfolgreich erwiesen.“

Die Patienten schätzen Ihr eigenständiges Konzept, bei Umfragen z. B. der Techniker Krankenkasse wird Ihr Haus regelmäßig als eine der besten Kliniken in Deutschland gewertet. Wie schaffen Sie das?

„Wir glauben, dass wir von der evidenzbasierten Medizin alle drei Säulen gut umsetzen: Die klinische Erfahrung der Ärzte, die Werte und Wünsche der Patienten und den aktuellen Stand der klinischen Forschung.

Die psychosoziale Struktur ist für uns genauso wichtig und selbstverständlich wie die naturwissenschaftlich-technischen Skills, wie zum Beispiel dass unsere Ärzte gut endoskopieren können. Die Qualifikationen unserer Mitarbeiter sind der Schlüssel für eine exzellente Medizin.

Besonders am Herzen liegt uns die Patientenpräferenz. Wir befragen unsere Patienten, was sie selber denken. Sie machen ja ihre Erfahrungen und merken, was ihnen weiterhilft und was nicht. Zugleich schulen wir unsere Ärzte und Pflegenden regelmäßig in psychosomatischer Grundversorgung.

Bei schweren Erkrankungen wie Krebs steht die biografische Gesprächstherapie im Vordergrund. An welchem Punkt seines Lebens steht der Mensch und was bedeutet für ihn die Erkrankung? Wie kann eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern einen konstruktiven Umgang mit ihrer Krebserkrankung entwickeln? Wie kommt sie aus den negativen Gedankenschleifen heraus und kann auch positive Antworten darauf geben? Ab welchem Alter klärt sie ihre Kinder auf und wie?

Wie führe ich dann als Arzt so ein biografisches Gespräch und wie gelingt eine empathische Situation, gleichberechtigt mit den Patienten und nicht von oben herab? Wie erkläre ich es meinen Patienten, wenn sie Krebs haben, wenn sie selbst so alt sind, wie ich als Arzt? Wie gehe ich in eine Betreuung, die dieser Situation angemessen ist? Das alles muss intensiv geschult werden. Das müssen junge Ärzte und Pflegende heute noch viel mehr lernen als früher.

Und wir wollen immer besser werden und lassen dazu regelmäßig Befragungen von einem unabhängigen Institut durchführen. Dabei haben wir gemerkt, wenn das Team in Ordnung ist, sind die Patienten happy. Wenn nicht, merken sie das sofort. Deshalb nutzen wir Teamsupervision und sorgen dafür, dass wir alle einen ‚guten Spirit‘ haben.“

Sie haben einmal gesagt, es sei Ihre Vision, die Medizin wieder menschlicher zu machen. Was genau meinen Sie damit?

„Heute glauben viele, dass sie ganz toll sind, wenn sie ausschließlich eine externe Faktenmedizin machen – also alles was evidenzbasiert und wissenschaftlich beweisbar ist. Das bedeutet häufig, dass Zahlen und Fakten wichtiger sind als zum Beispiel Lebensqualität. Ein Beispiel dazu: eine Frau mit einem Mammakarzinom nach ihrer Operation. Die Studienlage sagt, wenn sie danach eine Bestrahlung bekommt, senkt sie ihr Risiko, den Tumor wiederzubekommen um 15 Prozent. Für sieben Patientinnen würde diese Therapie also völlig nutzlos sein, nur jede Achte profitiert davon. Trotzdem raten Leitlinien zur Bestrahlung. Wir gehen da anders heran und stellen eher die Frage: Was kann ich als Patientin (noch) in meiner Lebenszeit machen? Wie geht es mir? Was will ich erleben? Autonome Selbstversorgung ist hochgradig wichtig. Sind Kinder zu versorgen? Fallen mir die Haare aus und belastet mich das unermesslich? Manchmal ist es für ältere Patienten wichtiger, den Sommer in Südfrankreich zu erleben als alle zwei Wochen zur Chemotherapie zu gehen und vielleicht nur ein paar Monate länger zu leben. Entscheiden müssen die Patienten selbst, denn sie müssen die Konsequenzen tragen. Es ist wichtig zu beachten, was die Patienten wollen, was ihre inneren Werte sind und nicht, was eine Studie sagt und die Ärzte für gut befinden. Wir müssen also mit den Patienten aus den allgemeinen medizinischen Fakten ihre individuelle Therapie gestalten.“

Was bedeutet für Sie Gesundheit?

Es gibt für mich nicht die Gesundheit.

„Gesundheit ist ein aktiver Prozess, der jedes Mal, jeden Tag wieder neu gewonnen werden muss. Gesundheit wird durch die innere Kraft der Homöostase hergestellt. Krankheit ist daher ein Verlust an Selbstregulation. Bei einem Infekt ist sie temporär gestört und in zwei bis vier Wochen ist das wieder gut. Wenn das Vermögen der Selbstregulation dauerhaft vermindert ist, sprechen wir von einer chronischen Erkrankung. Wir regen dann zu der Frage an: Was hat das mit mir selber zu tun, dass diese Regulation nicht stattfindet? Bei Bluthochdruck oder einem metabolischen Syndrom kann es beispielsweise etwas mit mangelnder Bewegung und Stress zu tun haben. Dann ist die Frage, wie stark sind die Patienten bereit, selbst etwas zu ändern, sich mehr zu bewegen? Immer hat es etwas mit meinem Verhältnis vom Seelisch-Geistigen zu meinem Leib zu tun. Wenn ich selber in Unordnung bin, tritt Krankheit auf. Manchmal gibt es jedoch auch sogenannte schicksalshafte Krankheiten oder Behinderungen, die beispielsweise vererbt sind oder die umweltbedingt entstehen. Wenn ich in Peking lebe, habe ich eine Feinstaubbelastung, die 600-mal so hoch ist, wie es in Berlin zulässig ist. Wenn ich nun dort eine Lungenerkrankung bekomme, hat das wenig mit mir zu tun, sondern dass ich Opfer meiner sozialen Umstände bin. Deshalb stellt sich bei Erkrankungen auch immer die Frage nach dem sozialen Umkreis. Schließlich kann man sich immer auch fragen, wozu ist Krankheit da? Jede Infektion macht einen immunologischen Vorteil. In jeder Krankheit besteht die Möglichkeit an ihr zu wachsen, indem ich sie überwinde. Es gilt also zu erkennen, ob mich die Krankheit herausfordert und ich etwas daraus lernen kann. Oder ob ich meinen Lebensstil übertrieben habe und es an der Zeit ist, diesen zu ändern.“

Wie sind Sie zur Anthroposophie und zur Naturheilkunde gekommen?

„Ich komme aus einer anthroposophischen Familie und bin in die Waldorfschule gegangen. Danach wollte ich Wissenschaft lernen und begann mit dem klassischen Medizinstudium. Doch nach drei Semestern war ich enttäuscht, dass grundsätzliche Fragen zur Gesundheit überhaupt nicht diskutiert wurden. Auf der Suche nach einem ganzheitlichen Menschenbild bin ich dann über die TCM zur Anthroposophischen Medizin gekommen. Mir war ein wissenschaftlicher Weg wichtig und vor allem, dass es hier ein Menschenbild gibt, das erkenntnismäßig erarbeitet wird, das einer wissenschaftlichen Prüfung standhält und wo ich mich als Arzt auch selbst entwickeln kann. Die Anthroposophie geht davon aus, dass der Mensch ein begrenztes Wesen ist, doch immer zur Weiterentwicklung befähigt ist. Indem man sich schult, vervollkommnet man sich und wird immer besser in seinem Tun. Jetzt setze ich mich schon seit rund 40 Jahren mit der Anthroposophischen Medizin auseinander und halte es für eines der mächtigsten Systeme, die die Phänomene der Medizin, die wir am Menschen sehen, erklärbar macht. Die Ayurvedische und die Traditionelle Chinesische Medizin mögen vielleicht weisheitsvoller sein, jedoch aus einer Zeit, wo man noch nicht so stark nach dem Warum gefragt hat und sich mehr auf Erfahrung verließ. Für mich ist die Anthroposophische Medizin da zeitgemäßer.“

„Wir brauchen ein Menschenbild in der Medizin, das die Seele und die spirituellen Ebenen mit einbezieht.“
[Harald Matthes]

Wie sieht das Menschbild in der Anthroposophie aus?

„Die Anthroposophie sieht den Menschen mehrdimensional. Vereinfacht können zwei unterschiedliche Ebenen gesehen werden. Einmal aus der somatisch-lebendigen Biologie: Das beinhaltet die leibliche Fortpflanzung, die Ahnenreihe, Genetik, Familie und alle Abläufe, in die wir hineingeboren werden. All das ist für uns Schicksal. Es gibt jedoch auch Dinge, die wir uns für dieses Leben rein seelisch-geistig vornehmen. Das wäre dann unser Karma, also die zweite Seite. Da das Ich immer nach Weiterentwicklung strebt, nutzt es dafür bestimmte Situationen und dazu können auch Krankheiten gehören. Manchmal kann das sogar ein ganzes Leben dauern, um Fähigkeiten zu lernen, die in der Zukunft von Bedeutung sein werden. Dieses Menschenbild als Hintergrund befähigt jeden Patienten sich aktiv mit seiner Gesundheit auseinanderzusetzen.“

Sie haben einen Stiftungslehrstuhl für Integrative und Anthroposophische Medizin an der Charité Berlin. An welchen Themen arbeiten Sie aktuell und was sind die neuesten Erkenntnisse?

„Wir machen gerade viele Vergleichs-Studien: konventionelle Therapien werden randomisiert und mit anthroposophischen Konzepten verglichen. Wir wollen herausfinden, was zum Beispiel bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen nachhaltiger wirkt. Bei wem wirkt die Musiktherapie besser als die Bewegungstherapie? Oder gibt es Therapiekombinationen, die besonders hilfreich sind? Wie sieht es mit Achtsamkeit aus? In den Studien lernen wir von unseren Patienten, was bei ihnen innerlich abläuft. Wenn manche einfach nicht entspannen können, was bei Reizdarmpatienten häufig ist, was mache ich dann als Therapeut? Wie kann man sie trotzdem dahin führen? In welchen Schritten und in welcher Zeit? Aaron Antonovsky (Health, stress, and coping. New perspectives on mental and physical well-being, San Francisco 1979) benannte in seinem Konzept der Salutogenese folgende drei Schlüssel: Information, Motivation und Handhabbarkeit. Wenn alle diese Punkte erfüllt sind, kann Selbstheilung einsetzen. Genau dahin wollen wir unsere Patienten führen.“

Sie sagten zu Beginn des Interviews, dass 80 % aller Erkrankungen lebensstilbedingt sind. Es gibt zahlreiche Gesundheits-Ratgeber in allen Medien. Wieso fällt ein gesunder Lebensstil trotzdem so schwer?

„Weil wir mit uns genauso unachtsam umgehen, wie mit unserer Umwelt! Wenn ein Patient zu uns in die Klinik kommt, sagt er meist: ‚Ich will nicht malen oder rumreden, ich will meine Symptome weghaben‘. Er will eigentlich nichts ändern und fragt sich auch nicht, warum seine Symptome entstanden sind. Unsere erste Aufgabe ist dann die Schulung zur Achtsamkeit. Wir stellen dann Fragen wie: Wann genau treten die Beschwerden auf oder wie lange? Dadurch entwickeln die Patienten für sich Achtsamkeit und bestenfalls daraus eine neue, intensivere Beziehung zu sich und ihrem Umfeld. Wahrnehmung heißt auch, was traue ich mir zu? Welches Selbstbewusstsein habe ich und wie kann ich daran arbeiten? Social Media ist hier ein großes aktuelles Thema. Wenn ich ständig das perfekte Instagram-Bild meines Idols vor Augen habe, komme ich nicht zu Ruhe. Wer das für die Wirklichkeit hält – und das tun heute viele – wird ständig nur hinterherlaufen, so perfekt wird er nie. Erst wenn ich mit mir und meinen Vorstellungen achtsam bin, mir klarmache, das ist nur Photoshop, kann ich ein echtes realistisches Selbstbild entwickeln.“

Haben Sie ganz persönlich einen besonderen Lebensstil oder Rhythmus, den Sie empfehlen können, um gesund zu bleiben?

„Ja. Meditation und Achtsamkeitsübungen. Dabei sind auch die Jahreszeiten wichtig. Ich mache bestimmte Übungen passend zur Jahreszeit. Für mindestens 15 Minuten am Tag klinke ich mich aus und versuche meinen inneren Entwicklungsweg meditativ zu gehen. Das mache ich in einer stillen Meditation als anthroposophische Denkübung. So viel Zeit muss sein, ganz gleich, was die Klinik, die Familie oder andere sagen. Wenn mir das regelmäßig gelingt, merke ich auch, dass ich mehr Kraft zur Verfügung habe und auch duldsamer werde.

Hin und wieder mache ich auch Heileurythmie oder betätige mich künstlerisch. Mal ist es Malen, mal Musik. Doch ich übertreibe auch nicht. Es soll ja tüchtiger machen und nicht zu viel Zeit kosten.“

Welche Ernährung können Sie empfehlen?

„Ich sehe das Vegetarische als sehr wichtig an. Das gibt es auch bei uns in der Klinik und ist sehr schmackhaft. Doch ich bin da nicht dogmatisch. Ich möchte bewusst damit umgehen und wir bieten für unsere Patienten auch dreimal in der Woche Fleischgerichte an.

Unbedingt sollte die Nahrung jedoch biologisch-dynamisch sein. Ich möchte ja auch, dass die Bauern gut mit der Erde umgehen, damit die Erde gesund ist. Da ist für mich normales Bio zu dünn.

Wenn ich bei Demeter einkaufe, habe ich nicht nur etwas für mich getan, sondern auch für die Gesellschaft und die Erde. Ich halte es für wichtig, sich darum Gedanken zu machen und auch dafür zu sorgen, dass die Äcker richtig kultiviert, Fruchtfolgen eingehalten werden und wieder eine gesunde Kultur der Landwirtschaft erreicht wird. Das ist für mich Nachhaltigkeit. Wenn die Böden wieder gesund sind, dann brauchen wir auch keine Nahrungsergänzungsmittel.“

Abschließend noch eine persönliche Frage: Wieso haben Sie den Beruf des Arztes gewählt?

„Meine Eltern waren beide Lehrer und in diese Fußstapfen wollte ich nicht treten. Ich wollte jedoch auch etwas Soziales mit Menschen machen, am liebsten mit Naturwissenschaften und Philosophie. Ich habe tatsächlich ein halbes Jahr Philosophie studiert. Doch das war mir zu lebensfern. Medizin war dann genau das Richtige. Medizin ist auf Handlung orientiert, doch die Psychologie und Philosophie spielen ebenso eine wichtige Rolle. Durch die Patienten bleibt das Ganze immer pragmatisch, denn man wird immer wieder auf die Erde geholt. Die Spezialisierung für innere Medizin und als Gastroenterologe habe ich bewusst gewählt. Man arbeitet tief im Dunkeln, im Verborgenen des Menschen. Für mich hat diese Art der Arbeit etwas sehr Faszinierendes und auch Ästhetisches. Ich stelle dann immer fest, wie weisheitsvoll unser Körper ist und wie viel wir als Ärzte beispielsweise über die Prozesse der Organe wie der Leber noch lernen können. Ich glaube, dass viele Ärzte bis ins hohe Alter fasziniert sind von der menschlichen Natur und es für sie eine unendliche Freude ist, diese Weisheit des Lebens zu studieren.

Für mich ist das eine Berufung. Wenn ich meine Fähigkeiten und mein Wissen immer weiterentwickeln kann, damit ich meinen Patienten bestmöglich dienlich bin, dann gibt mir dies tiefe Zufriedenheit. Wenn ich sehe, dass meine Patienten durch die gemeinsame Interaktion innerlich berührt sind, bereit werden, etwas zu verändern und damit in die Heilung kommen, dann ist das für mich die größte Freude.“

 

Herzlichen Dank für Ihre Antworten!

Ihre Redaktion Naturheilmagazin

Das Interview wurde im April 2019 geführt – veröffentlicht im November 2019.

Weiterführende Links:

Zur Website der Klinik für Anthroposophische Medizin Havelhöhe

Zum Stiftungslehrstuhl Integrative und Anthroposophische Medizin

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